Stefanie Pluta – Appeal/Momentum, 2024
Spaziergang: 18.05.2024, 15 Uhr
Eröffnung: 02.05.2024, 19 Uhr
Am 18.5. um 15 Uhr wird es eine Führung und Gespräch über und an der Einsturzstelle des ehemaligen Stadtarchivs mit Günter Otten und weiteren Akteur:innen der Initative Archivkomplex geben. Treffpunkt ist im Matjö.
Laufzeit: 02.05.– 29.05.2024
Wenn Gefahr droht, dann spüren Tiere das nahende Unglück oftmals früher als Menschen. Kurz vor einem Erdbeben sind sie es, die ihre gewohnten Wege verlassen, fliehen, kreischen, sich vollkommen anders verhalten als sonst. Dieses Bild von wegfliegenden Vögeln, die den Ort einer bevorstehenden Katastrophe meiden, hat die Künstlerin Stefanie Pluta dazu bewegt, an der Einsturzstelle des Kölner Stadtarchivs vermeintliche Vogelhäuschen aufzuhängen. Das war 2014, 5 Jahre nach dem Einsturz.
Seither ist an dem Ort viel passiert und gleichzeitig kaum etwas. Es ist ein Ort und ein Nicht-Ort zugleich. Einerseits stand hier etwas buchstäblich Historisches, das von einem Moment auf den anderen (wie) vom Erdboden verschluckt wurde. Andererseits ist seitdem etwas da, das sich verändert, bewegt, das mehr ist als eine Baugrube, und gleichzeitig genau das. Ein Loch. Durchdrungen und umgeben von Gerüsten, Bauzäunen, Rohren, Kameras, Menschen, einem Kran, Wasser, Wohnhäusern, einer Schule, Ikarus.
Es ist diese wahrzunehmende dauerhafte Temporalität des Ortes, das sich scheinbar nicht verändernde Temporäre, das bleibende Provisorium, das die Künstlerin an der Stelle, wo einst das Historische Archiv der Stadt Köln stand, interessiert. Seitdem das Archiv im März 2009 eingestürzt ist, beschäftigt sie sich mit dem Ort und hat ihn immer wieder in unterschiedlichen Medien dokumentiert, meist über die Fotografie, aber auch mit kurzen Videos. Dies kann als eine künstlerische Form der Aktivierung des öffentlichen Ortes gelesen werden, der wenig sichtbare Bewegung mit sich bringt und für viele eher mit Verlust und Stillstand verbunden ist.
Für die aktuelle Ausstellung im Matjö bringt Pluta einen Teil ihrer Arbeit von 2014, die der Ausstellung ihren Titel verleiht, zurück in die Nähe der ursprünglichen Installation der vermeintlichen Vogelhäuser. Postkarten, die zum Mitnehmen in einem Ständer in der Ausstellung bereitstehen, dokumentieren die Entwicklung der mit einem Loch versehenen Holzkästen, die an Bauzäunen und Straßenlaternen hingen und dort – den Flecken nach zu urteilen – über Jahre der Witterung ausgesetzt waren. Hinzukommen schwarz-weiße, gerahmte Fotografien und Videos, abgespielt auf Handydisplays, die den Ort des Geschehens zeigen beziehungsweise das, was seit dem Einsturz an der Stelle des Archivs und seiner unmittelbaren Umgebung entstand.
Während man heute kaum mehr Einblick auf die Einsturzstelle hat, weil diese mittlerweile komplett eingezäunt und abgeschirmt ist, hat Pluta über den Zeitraum von 10 Jahren Bilder eingefangen, die den Ort in unterschiedlichen Zuständen und – wenn man so will – Bewegungen zeigen. Hier werden sowohl Bauarbeiten am Loch als auch andere Prozesse sichtbar, die nicht nur durch Menschen, sondern durch natürliche und mechanische Einflüsse in Gang gesetzt wurden: Algenteppiche durchziehen die Baugrube, eine Vereisungsanlage schnauft vor sich hin und pustet Rauch in die Luft, Wasserrohre schlängeln sich vom Loch hinaus an den Wohnhäusern entlang in die Stadt, während der Ikarus an der Fassade des benachbarten Gymnasiums über allem schwebt.
In ihren aktuellen Arbeiten hat die Künstlerin ihre frühe Werkserie erweitert durch Fotografien und Videos, welche einzelne der mühselig aus der Baugrube geborgenen Archivgüter sowie Trümmerstücke des alten Baus zeigen. Diese liegen heute im neu gebauten Stadtarchiv und lassen sich hier (wieder) einsehen. Ein absurder Gedanke kommt mir: Das Archiv hat viele seiner Bestände im Wasser, unter Erde, Sand und Kieseln verloren und dennoch ist das Archiv mit dem Einsturz auch angewachsen. Es verwahrt heute unter anderem die Zeugnisse des Einsturzes: Steinbrocken, aus denen Stahlstreben ragen, die aussehen wie riesige Fühler. Sie sind alles andere als tot, sie bewegen sich, wenn man den Stein anhebt oder zur Seite schiebt. Dann entwickeln sie ein Eigenleben. Sie sind unmittelbare Zeugen der Ka-tastrophe, zeigen die Kräfte, die auf sie einwirkten, indem sie all ihre Gliedmaßen von sich strecken und die Verbände aus Luftpolsterfolie zur Schau stellen. Meist sind es feste, große Steinkörper, an denen dünne Stahlglieder hängen und zittern. So wirken die vibrierenden Trümmerstücke wie von einem anderen Planeten. Wer sendet hier welche Botschaft? Welche Erinnerungen (über)tragen die Materialien selbst?
Pluta interessiert genau diese Spannung zwischen der vermeintlich toten Materie und dem lebendigen Material. Neben den Postkarten, Fotografien und Filmen hat sie in der Ausstellung kleine bunte Seedballs verteilt. Diese kann man, wie schon die Karten, mitnehmen und um die Ecke am Ort des Einsturzes auslegen oder einfach über die hohe Mauer ins Loch werfen – so bleibt Hoffnung, dass sich hier auch weiter etwas bewegt und dass zumindest Pflanzen und Insekten an den Ort kommen, bis sich das Loch wieder (anders) füllt.
Kathrin Barutzki, 29.4.2024